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Gelebte Zukunft auf Schloss Blumenthal

Gelebte Zukunft auf Schloss Blumenthal
Auf Schloss Blumenthal wagen 61 Menschen ein Experiment. Ihr Ziel ist nachhaltiges Zusammenleben. Das 1568 erbaute Schloss ist heute „Ein Lernort für gelebte Zukunft“.
Foto: Schloss Blumenthal, SoLaWi, Hotel, Biergarten, Augsburg

Südlich von Aichach, ganz in der Nähe von Augsburg, liegt Schloss Blumenthal. Inmitten von sanften Hügeln, umgeben von Feldern und Wäldern. Die klassisch gelb-weißen Häuser, die Kirche, das Schloss mit Türmchen und die Remise bilden einen nahezu perfekten Kreis. Ein Biergarten und ein Restaurant laden zu regionalen Spezialitäten, das Hotel mit 40 individuell ausgestatteten Zimmern zu komfortabler Übernachtung. Auf den ersten Blick ist Blumenthal also ein typisch schwäbisch-bayerisches Anwesen. Aber das 1568 erbaute Schloss ist heute vor allem eines: „Ein Lernort für gelebte Zukunft“.

Hier haben sich 2006 acht Familien niedergelassen, um gemeinsam so zu leben, wie es ihren Vorstellungen entspricht. Der nachhaltige Umgang mit Mensch und Natur steht dabei im Mittelpunkt. Außerdem die gute Kommunikation untereinander und Arbeit, mit der jede*r sich identifizieren kann.

 

Ihre gemeinsamen Unternehmen, wie Hotel, Biergarten, Solidarische Landwirtschaft oder Seminare und Veranstaltungen werden nicht hierarchisch organisiert und funktionieren wie ein selbstführender Organismus. Seit 2023 ist Schloss Blumenthal Gemeinwohl-zertifiziert, seit 2014 betreiben sie eine Solidarische Landwirtschaft, sie renovieren die älteren Häuser mit ökologischen Materialien, teilen Autos im Carsharing-System und Kleider, Bücher und Medien im Sharing-Room. Die Blumenthaler leben in vielerlei Hinsicht nachhaltig und umweltfreundlich und sie sehen in ihrem Zusammenleben ein „zukunftsweisendes und mutig gelebtes Experiment in praktischer Umsetzung“. Heute leben 43 Erwachsene und 18 Kinder in der Schlossanlage. Darunter Gärtner*innen Musiker*innen, Lehrer*innen, Architekt*innen, Designer*innen, Landwirte und viele Selbstständige. Betrachtet man die hochaktuelle Website, die Professionalität im Hotel- und Gaststättenbereich und die Schnelligkeit der Kommunikation, so ist das Experiment im 21. Jahrhundert angekommen.

 


Solide wirtschaftliche Basis

Aber wie ist das gelungen? Zunächst einmal agierten die Blumenthaler sehr pragmatisch und haben sich für ihre Idee eine solide wirtschaftliche Basis geschaffen. 2006 legten die acht Familien ihr Geld zusammen und brachten gemeinsam die nötigen 50 Prozent Eigenkapital für den Kauf des Blumenthaler Anwesens auf. Ihr Kreditgeber, die GLS-Bank, machte zur Voraussetzung, dass von Anfang an Schulungen für Kommunikation und Konfliktlösung durchgeführt wurden. Fortbildungen gehören auch heute noch zum gemeinsamen Freizeitprogramm – von ökologischem Bauen bis hin zum Tangotanzen ist alles möglich. Einmal im Jahr organisieren die Blumenthaler mit Initiativen aus der Umgebung das Forum Zukunft, in dem neue Wege des Zusammenlebens diskutiert und erarbeitet werden.

 


Mein Nachbar ist auch mein Freund

Im Alltag treffen sich alle Blumenthaler jeden Mittwoch und besprechen Sachthemen, wie Mietverwaltung, Elterngruppen oder neue Ideen und Pläne. Einmal im Monat wird über Privates gesprochen und alle sechs Wochen ist Mittwochs-Plenum, bei dem über Belange der Gemeinschaft abgestimmt wird.

"Das gemeinsame Leben hier ist viel intensiver, als in einer normalen Nachbarschaft. Denn meine Nachbarn hier sind auch meine Freunde und ich sehe sie regelmäßig.“ 

 

Martin Horack, Schloss Blumenthal.

Martin Horack ist im Leitungsteam des Hotels. Außerdem arbeitet er als freiberuflicher Trainer auch oft außerhalb von Blumenthal. 2007 ist er mit seiner Frau nach Blumenthal gezogen, vor allem, weil „der Mensch ein soziales Wesen“ ist.
Für die Realschullehrerin Kathrin Schaefer, ihren Mann Mario und ihre drei Kinder waren gleich mehrere Gründe ausschlaggebend, um nach Blumenthal zu ziehen.

"Unsere Kinder wachsen in einem Umfeld auf, wo sie auch andere Erwachsene als Bezugspersonen und Rollenvorbilder haben." 

 

Kathrin Schaefer, Schloss Blumenthal.

Ihr Mann Marion Schaefer ergänzt, dass sie damals einen Bauernhof suchten und Blumenthal  Landwirte. Er hat Waldwirtschaft studiert und erarbeitet hat das Konzept für eine Käserei mit Hofladen erarbeitet, das 2021 umgesetzt wurde. Und natürlich arbeitet er in der Solidarische Landwirtschaft Blumenthal, kurz SoLaWi.

 

 

SoLaWi: Landwirte und Verbraucher*innen planen gemeinsam

Das Prinzip ist einfach: In einer solidarischen Landwirtschaft zahlen die Teilnehmer*innen den Bauern das gesamte Jahr über jeden Monat einen festen Betrag. Damit ist für den Landwirt die Finanzierung seines Erntejahres gesichert. Als Gegenleistung wird die Ernte unter den Mitgliedern geteilt. In Blumenthal werden auf 1,5 Hektar 50 verschiedene Gemüsesorten angebaut, sowohl auf der Freifläche, als auch im Gewächshaus. Das heißt, alle SoLaWi-Teilnehmer*innen haben das ganze Jahr über regionales, saisonales Bio-Gemüse. Unverpackt und ohne große Transportwege kann es wöchentlich an sechs verschiedenen Verteilerstellen abgeholt werden. Wer jetzt Lust auf frisches Gemüse bekommen hat, kann dieses Angebot einen Monat lang ausprobieren – für 55 Euro.

 

 

Hotelführung - ohne hierarchische Strukturen?

Natürlich profitieren auch das Restaurant und der Biergarten auf Schloss Blumenthal von dem reichhaltigen Angebot der SoLaWi. Die Gaststätte kocht fast ausschließlich mit frischen Zutaten und in biologischer Qualität. Bei der Führung des Hotels gibt es keine rein hierarchischen Strukturen. Einmal im Jahr wird eine Jahresplanung festgelegt. Aktuelle Entscheidungen treffen Küche, Rezeption oder Housekeeping eigenständig, ohne Abstimmung mit allen Blumenthaler*innen. 

 

Nach einem Jahr wird geprüft, wie das funktioniert hat. „Das hat den Vorteil, dass wir keine lähmenden basisdemokratischen Entscheidungen fällen“, sagt Horack. Und dass die Zufriedenheit der selbstbestimmt arbeitenden Mitarbeiter*innen besonders groß ist. Ein Blick in das Angebot von Schloss Blumenthal zeigt, wie erfolgreich das Konzept ist. Der Terminkalender ist gut gefüllt mit Hochzeiten, Seminaren, Musik, Lesungen oder anderen Events. Demnächst wollen die Blumenthaler ein eigenes Kursprogramm auf die Beine stellen.


Die 40 Zimmer des Hotels haben übrigens Blumenthaler Innenarchitekt*innen, Designer*innen oder Künstler*innen ausgestattet. Sie tragen Namen wie Baumhöhle, Orientexpress oder Rendezvous mit einem Globetrotter. Jeder Raum ist ein Unikat und gleichzeitig ein Zeichen für die gelungene Zusammenarbeit der Blumenthaler untereinander.

 

Erst kennenlernen, dann einziehen

Wer Interesse hat, in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden, sollte sich Zeit nehmen, Blumenthal und seine Bewohner*innen kennenzulernen. Denn der Einstieg in eine Gemeinschaft ist eine weitreichende Entscheidung. Vom ersten Infotag über das Probewohnen bis hin zur Entscheidung wird etwa ein Jahr veranschlagt. Für Martin Horack hat sich das Prozedere gelohnt:

 

In Blumenthal stimmt das Verhältnis von ökologischem Fußabdruck und persönlicher Zufriedenheit. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass diese Form des Lebens und des lebenslangen Lernens für mich sehr intensiv, reich und erfüllend ist.“ 

 

Martin Horack, Schloss Blumenthal

Infos

 

Mehr über Blumenthal: www.schloss-blumenthal.de


Führung durch Blumenthal: Jeden Sonntag um 14 Uhr findet eine 90-minütige Führung durch Blumenthal statt

 

Führung Biohof: Im Sommer findet einmal im Monat eine zweistündige Führung mit Verkostung von Ziegenkäse über den Biohof statt.

 

 

Dieser Artikel erschien erstmalig im November 2019. 

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Buchtipp: Das Integrationsparadox

Buchtipp: Das Integrationsparadox
Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt
Aladin El-Mafaalanis„Das Integrationsparadox“

Aladin El-Mafaalani hat ein reizvolles Buch geschrieben, das sich in ein paar Stunden am Stück lesen lässt. Mensch sollte anschließend aber noch mal nachlesen, denn es lohnt sich, sich einige Gedanken einzuprägen. Aber erst mal flutscht dieser 235 Seiten starke Essay gut runter, denn er ist schlüssig und interessant, bringt hier und da neue Gedanken bzw. bisher schon Gedachtes gut auf den Punkt.

 

Worum es in dem Buch geht...

El-Mafaalanis meistgebrauchtes Bild ist der gemeinsame Tisch: je mehr verschiedene Menschen es geschafft haben, mit am Tisch zu sitzen  - und niemand mehr auf dem Boden oder am Katzentisch sitzt - desto spannender wird es an diesem Tisch. Und wenn all diese Menschen dann nicht nur mitessen wollen, sondern auch mitreden, mitbestellen, mit entscheiden, was es gibt, am Ende die Tischregeln mitgestalten – dann wird es ricihtig interessant.

In dieser Phase seien wir jetzt in Deutschland. Der Zeit der Superdiversity. Des neuen Wir. Bereichernde und anstrengende Zeiten. Weder Monokultur noch Multikultur. Subjektive und objektive Realitäten klaffen auseinander. Es gibt mehr Dissonanzen, mehr Neuaushandlungen. Und Gespräche, die geführt werden müssen. Veränderungen geschehen nicht von heute auf morgen. Kultur, Identität und Zugehörigkeiten sind nicht beliebig wandelbar.

 

 

Konflikte zeigen Integration

Konflikte sind für ihn nichts Negatives. Sondern Teil sozialen Wandels, meist auf Grund des Strebens nach erweiterter Teilhabe oder „Integration“ oder wie auch immer man das bezeichnen möchte. Konflikte sind für ihn Ausdruck von Ansprüchen, auf Augenhöhe. Und auch populistische Schließungstendenzen sind ihm verständlich, wenn auch vergebens. Es gab und gibt keine konfliktfreien Gesellschaften. Auch wenn es zunächst paradox klingen mag: Gelungene Integration steigert das Konfliktpotenzial. Und: bei Integration handelt es sich um grundlegende, die Gesellschaft verändernde Konflikte.

 

 

Offene Gesellschaft

Immer wieder betont El-Mafaalani: so gut wie heute war es gesellschaftlich in Deutschland noch nie – nicht in den glatten Wirtschaftswunderzeiten und natürlich schon gar nicht während der Herrschaft des Nationalsozialismus, aber das ist ja klar. Nie sei die innere wie die äußere Offenheit in Deutschland größer gewesen. Und die Integration besser.

Auch wenn noch lange nicht alles gut läuft derzeit: endlich wieder ein optimistisches Buch. Mit jeder Menge interessanter Herausforderungen – na und? Migration die Mutter aller Problem? Nein, interessante Realität in der immer kleiner gewordenen globalen Welt, auch in Deutschland, auch in unserer Stadt, auch für uns.

Einfach zu benennen ist das alles nicht. Der Autor selbst ist ein gutes Beispiel: Aladin El-Mafaalani ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, als Kind von eingewanderten Syrern. Er ist Deutscher, offiziell „mit Migrationshintergrund“. In anderen Bezeichnungen „nicht biodeutsch“, „deutschplus“ oder „neuer Deutscher“. Wissenschaftlich: „Postmigrant mit Mehrfachidentität“. Er bevorzugt vermutlich „Mensch mit internationaler Geschichte“. Egal - das alles ist heute deutsch und zeigt unseren Reichtum.

 

 

Teilen, nicht wachsen

Als Kernproblem sieht er nicht kulturelle Verschiedenheit, sondern die soziale Frage, wachsende soziale Ungleichgewichte. Auf die Frage, wie wir es denn schaffen können, diese Ungleichheit abzubauen oder zumindest erträglicher zu machen, auch ohne quantitatives Wachstum, vor allem Wirtschaftswachstum  - schlägt er qualitatives Wachstum vor und präzisiert: Wachstum nach innen. Zusammenwachsen.

 

Der Kuchen wird nicht größer, aber er soll gerechter verteilt werden. Zusammenwachsen ist ein Prozess, mit auch unbekanntem Ziel. Im positiven Sinne spannend. Es muss gewollt werden und erfordert einen langen Atem. Bevorzugte Formen sind Austausch und Kooperation, aber eben auch Streit. Gut integrierte Menschen streben nach Anerkennung und äußern ihre Interessen und Bedürfnisse offensiv. Treibende wie bremsende Kräfte sind wichtig in Veränderungsprozessen, die für die Beteiligten auch mühsam und zum Teil überfordernd sind. Entscheidend ist, wie Menschen bei alldem miteinander umgehen.

 

Nicht nur Aladin El-Mafaalanis Buch „Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt“ macht Furore. Als er im Januar 2016 auf Einladung des Bildungsbündnisses der Lokalen Agenda in Augsburg war und als Bildungsforscher über „Armut und Begabung“ referierte, war er noch Professor an der Fachhochschule Münster. Jetzt arbeitet er als Abteilungsleiter im NRW-Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration und kann die im Buch präsentierten Gedanken hoffentlich in Programme, Projekte und Taten umsetzen. Das lässt hoffen.

 

INFO

Aladin El-Mafaalani, Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, KiWi-Paperback, ISBN: 978-3-462-05164-3, Erschienen am: 16.08.2018, 15,00 €

 

Aladin El-Mafaalani, 1978 im Ruhrgebiet geboren. Er studierte in Bochum Politikwissenschaft, Soziologie, Wirtschaftswissenschaft und Arbeitswissenschaft. Zunächst war er Lehrer am Berufskolleg Ahlen, später Professor für Politikwissenschaft und politische Soziologie an der Fachhochschule Münster. Von 2018 bis 2019 arbeitete er im nordrhein-westfälischen Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in Düsseldorf. Seit Juli 2019 ist er Professor und Inhaber des Lehrstuhls für „Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft“ an der Universität Osnabrück. Zugleich ist er ehrenamtlich Beauftragter des NRW-Integrationsministeriums in Fragen des muslimischen Engagements.
 

 

Überarbeitet am 10. Juni 2022

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