Unsere Organisationsformen sind zunehmend überfordert von einer komplexer werdenden Welt. Dominik Kieser und Markus Hecht zeigen Zusammenhänge auf und lenken den Blick auf erste gute Lösungsansätze und neue Organisationsformen.
Dem brasilianischen Unternehmer Ricardo Semler ist es ziemlich egal, ob er seine Angestellten am Arbeitsplatz antrifft oder ihre Schreibtische mal wieder leer sind. Die Mitarbeiter des „Dienstleistungsunternehmens Semco“ bestimmen nicht nur selbst, was zu tun ist, sondern auch, wie, wann und wo sie ihre Arbeit erledigen. Sie öffnen neue Geschäftsfelder, legen gemeinsam ihre Verantwortlichkeiten fest und teilen die Gewinne auf. Wer mehr Geld will, muss vor den Kollegen rechtfertigen können, warum er mehr verdient oder warum er denkt, dass die Leistung, die er erbringt, mehr Wert hat. Denn die Gehälter sind für alle Mitarbeiter ebenso einsehbar wie alle wichtigen Kennzahlen des Unternehmens.
Überforderung von Mensch und System
Professor Peter Kruse beschreibt in seiner Studie zur „guten Führung“, dass 42 Prozent der Führungskräfte sich eine andere Organisationsform wünschen. Kruse war einer der Ersten, der erkannt hat, dass die heutigen Organisationsformen nicht mehr zeitgemäß sind. Vor allem die neuen Medien und das Internet haben eine sich selbst verstärkende gesellschaftliche Veränderungsdynamik erzeugt. Die Welt wirkt heute sehr undurchschaubar und komplex. Einige Phänomene wie die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten lassen sich nicht so einfach erklären. Es gibt keine klaren und überschaubaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge mehr. Es kommt zu „Aufschaukelungs-Phänomenen“, und was dabei am Ende raus kommt, ist nicht immer das, was der Verfasser wollte und erinnert an manchen Stellen an das Spiel „stille Post“.
Typisches Beispiel McDonalds
Nach Kruse müssten eigentlich die inneren Strukturen ähnlich komplex aufgebaut sein wie ihre äußeren Umwelten. Genau hier stoßen viele Organisationen noch an ihre selbstgemachten inneren „Grenzen“. Bis zur Jahrtausendwende war es sinnvoll, Unternehmen linear und hierarchisch zu strukturieren, da das Umfeld der Organisationen stabil blieb oder sich eher langsam veränderte. Es war nützlich, möglichst robuste Strukturen aufzubauen. Es ging um Wiederholbarkeit und Verlässlichkeit von Tätigkeiten, um die Kosten gering zu halten und um die Welt nicht immer neu erfinden zu müssen. Ein typisches Beispiel hierfür ist McDonalds. Für jeden Hamburger gibt es die gleichen Zutaten. Sie werden in allen Restaurants der Welt nach dem gleichen Verfahren zubereitet. Schwierig wird es erst, wenn Kunden individuelle Anliegen äußern, die vom Standardverfahren abweichen. Die McDonalds-Mitarbeiter dürfen dann auch nicht für den Kunden kreative Lösungen finden, sondern müssen sich an die Anweisungen des Unternehmens halten. Sie stehen in einem Dilemma zwischen Kundenorientierung und der Verpflichtung, die Unternehmensregeln einzuhalten.
Dies Form der Unternehmensführung hat allgemein zur Folge, dass sich viele Mitarbeiter erschöpft fühlen und sich immer weniger mit der eigenen Arbeit identifizieren. Der Gallup Engagement Index weist für 2015 aus, dass weit über 80 Prozent der Befragten in Deutschland sich wenig oder gar nicht mit ihrer Organisation verbunden fühlen. Psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz sind dramatisch auf dem Vormarsch. Psychische Gefährdungsbeurteilungen sind mittlerweile in allen Betrieben gesetzlich vorgeschrieben. Lösungen werden jedoch nicht angeboten, denn die Veränderung kann nicht über den einzelnen Arbeitsplatz erfolgen, sondern dadurch, dass das Gesamt-System geändert wird. Da sie die neuen äußeren Einflüsse nicht angemessen berücksichtigen, führen die alten Strukturen zu Dauerkonflikten und Überforderung der Mitarbeiter. Sie unterbinden Innovation und eigenständiges Handeln und führen zu innerer Leere und gleichzeitiger Überforderung.
Dressiert oder wertgeschätzt?
Das Tayloristische Organisationsprinzip der Standardisierung, Normierung und zentralen Steuerung, das anfänglich von Henry Ford und dann immer mehr von allen Unternehmen übernommen wurde, stieß dann an seine eigenen Grenzen, als die Märkte immer gesättigter waren. In digitalen „Nachfragemärkten“ des 21. Jahrhunderts bestimmt der Kunde, was wichtig ist, und nicht mehr die Produktentwicklung des Unternehmens. Verlieren Organisationen hier den Anschluss, verlieren sie Aufträge und Marktanteile an dynamischere Wettbewerber. Firmen wie Nokia, Kodak und Osram bieten dafür eindrucksvolle Beispiele. Heute geht es also auch darum, mit immer neuen Ideen und Innovationen für Aufmerksamkeit zu sorgen und den immer neuen Bedürfnissen der Kunden schnell nachkommen zu können.
In einer komplexen Welt werden flexible und kreative Lösungen von allen Mitarbeitern gebraucht, besonders von denen, die nah am Kunden arbeiten. Ganz anders als noch vor ein paar Jahren, als es eher darum ging, seine Mitarbeiter zielgerichtet nach Soll-Ist-Vergleichen zu steuern und zu kontrollieren. Die Unternehmen waren und sind immer noch wie Maschinen aufgebaut, nach dem Motto „die ‚oben‘ denken und die ‚unten‘ handeln“. Diese Organisationen sind somit beschränkt auf Wissen und Urteilsvermögen der Vorgesetzten. Der Tod der klassischen tayloristischen Organisation ist die Arbeitsüberlastung und der Innovationsstau im gesamten System. Die Mitarbeiter werden zwar oft mit Boni oder Belohnungssystemen bei der Stange gehalten, im Engagementindex wirkt sich das jedoch nicht positiv aus. Die Folge: Menschen fühlen sich dressiert und nicht wertgeschätzt. Oft kann die wirtschaftliche Talfahrt nur über Fusionen mit anderen Unternehmen aufgehalten werden, denn es mangelt weiter an Eigeninitiative und Kreativität gegenüber Wettbewerbern.
Neue Lösungen: Dynamic Governance & Soziokratie
Allerdings gibt es erste Beispiele von Unternehmen, die die kollektive Intelligenz und Selbstorganisationskräfte in Unternehmen besser fördern. Das ist nicht leicht, aber lohnend. Tatsächlich fordert die Stärkung von Eigeninitiative und Selbstorganisation, wie es Semler in seinem Unternehmen Semco geschafft hat, von allen Beteiligten eine große menschliche Reife, gedankliches Differenzierungsvermögen und die Fähigkeit, die eigenen Vorstellungen von Erfolg zu Gunsten der Entwicklung des Ganzen zur Disposition zu stellen. Sie fordert die Fähigkeit zuzuhören, zu reflektieren und sich möglicherweise umstimmen zu lassen. Sie verlangt von allen, ihre eigene Arbeit einzuschätzen oder sich gegenseitig bei der Einschätzung zu helfen. Das Unternehmen Semco zeigt, dass es möglich ist, Rahmenbedingungen zu schaffen, um diese Haltungen besser zu kultivieren und die Energie eher in Vertrauen statt in Sozialkontrolle zu lenken.
Ein anderes Beispiel, das beim Übergang zur „Vertrauenskultur“ helfen kann, ist das Organisationsmodell der Soziokratie. Der Name klingt angestaubt, die Funktionsweise ist hochmodern. In soziokratischen Organisationen (Dynamic Governance) beschließt diejenige Gruppe von Menschen, die organisatorisch am nächsten am Entscheidungsgegenstand ist und zur besten Beurteilung fähig ist. Die Entscheidung fällt also weder autokratisch noch basisdemokratisch. Bei der Soziokratie wird in Kreisen statt in Abteilungen organisiert. Jeder Kreis darf innerhalb seines Zuständigkeitsbereiches eigene Entscheidungen dezentral treffen. Die Kreise haben in der Regel nicht mehr als 10 Mitglieder. Es sitzen nur die Mitarbeiter im Kreis, die auch wirklich mit der Zielsetzung des Kreises unmittelbar zu tun haben. In allen Kreisen werden für die Gesprächsleitung Personen ausgewählt, die ausschließlich die Gesprächsführung und die Zielsetzung der Sitzungen im Blick haben. Die Rolle des Vorgesetzten ist somit von der Rolle des Moderators getrennt.
Entscheidungen werden in den Kreisen im „Konsent“ (nicht Konsens!) getroffen. „Konsent“ heißt, dass im Entscheidungsablauf versucht wird, die Entscheidung so zu verändern, bis die Widerstände der Entscheidenden intergiert sind. Dies führt zu guten und nachhaltigen Entscheidungen (kollektive Intelligenz). Alle Entscheidungen werden als „derzeit beste Lösung“ gesehen und haben ein Verfallsdatum. Die Sinnhaftigkeit wird also regelmäßig auf neue Situationen abgestimmt (Dynamic Governance). Auch Rollen werden je nach Situation entschieden: wer ist für welche Aufgabe derzeit der/die Richtige? Es wird offen gewählt und jeder begründet, wieso er denkt, dass die Person die Rolle ausfüllen soll. Dann wird wieder im Konsentverfahren entschieden. Die Rollen werden regelmäßig neu gewählt.
Die Hierarchie wird mit der soziokratischen Organisation nicht völlig abgeschafft, sondern sinnvoll ergänzt. So hat jeder Kreis eine doppelte Verknüpfung zum nächst höheren Kreis. Damit wird versucht, den Informationsfluss von unten nach oben und wieder zurück möglichst reibungslos und schnell zu organisieren. So erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Änderungen im Umfeld und bei den Kunden auch schnell im Zentrum ankommen und intern verarbeitet werden können.
Das Gehirn als Vorbild?
Vielleicht bilden sich in Zukunft netzwerkartige Strukturen, die eher wie ein Gehirn agieren. Das Gehirn selbst ist ein Netzwerk von Milliarden von Neuronen (Gehirnzellen), die untereinander in Verbindung stehen. Interessanterweise kann die Gehirnforschung trotz intensiver Suche keinen Ort und keine Instanz im Gehirn finden, wo die gesamten Informationen zusammenlaufen, ausgewertet werden, verteilt werden oder wo Entscheidungen getroffen werden. Das ICH ist im Gehirn in keiner Weise nachweisbar. Die einzelnen Neuronen oder auch Regionen des Gehirns haben jeweils nur Ausschnitte einer Gesamtinformation codiert (gespeichert). Diese Teilinformationen setzen sich zu einem Ganzen zusammen, wenn die Neuronen oder regionalen Netze sich mit anderen in eine gemeinsame Schwingung versetzen, sich synchronisieren. Eine dezentral organisierte Information fügt sich zu einem Ganzen durch Synchronisation. Wenn wir die Beobachtungen am Gehirn auf den Intelligenzbegriff übertragen, könnten wir (etwas vereinfacht) sagen: je umfassender und intensiver die Teile eines Systems (z.B. Neuronen des Gehirns) miteinander vernetzt sind und kommunizieren, und je besser sie aufeinander eingeschwungen sind, desto höher, d.h. komplexer ist die Intelligenz. Es deutet vieles darauf hin, dass das nicht nur für das Gehirn, sondern insgesamt für lebende Systeme, also auch soziale Systeme wie Organisationen gilt.
Autoren: Dominik Kieser und Markus Hecht, Lernkreis Soziokratie der Lokalen Agenda 21 in Augsburg.
Der Artikel ist erschienen in der Agendazeitung Nr. 46, Frühjahr/Sommer 2017.