bauen & wohnen

Mein Traum von einer lebendigen Nachbarschaft

Wie gelingt es, Nachbarinnen und Nachbarn dazu zu bringen, sich als Gemeinschaft zu fühlen? Unsere Autorin hat eine soziokratisch selbstorganisierte Nachbarschaft organisiert. Ein Beitrag von Maria Brandenstein.
Nachbar*innen des Mälzerhofs bei ihrem Treffen im Café Eder im House of New Realities.

Der Mälzerhof in der Augsburger Bäckergasse ist seit 10 Jahren meine Heimat. Aber wie zu Hause fühle ich mich? Phasenweise kam ich mir in meiner Wohnung – dicht an dicht zu anderen Wohnungen – vor wie in einer Einsiedelei. Es gab immer wieder Wochen, ja Monate, in denen ich keinem bekannten Gesicht in meinem Sträßchen oder gar im Haus begegnete. Immer wieder dachte ich, ich könnte auch in der Wüste oder im Wald leben. Da wäre der Sternenhimmel zumindest klarer als ich ihn von meinem Balkon aus sehe. Und doch hält es mich in der Stadt. Nicht, dass es mir an Freund:innen fehlte. Es gibt viele Menschen, die ich zu meinem Freundeskreis zählen darf. Jederzeit kann ich mir Leute einladen oder welche besuchen. Das mache ich auch mit viel Freude. Aber mir geht es hier um das Gefühl des Zuhause-Seins und die Frage, wie möchte ich leben?

 

Ich habe nie die Hoffnung aufgegeben, irgendwann auf den Balkon zu gehen und vom Balkon gegenüber ein „Hallo Maria“ zu vernehmen. Einmal war es fast so weit. Ich hörte allerdings nicht „Hallo Maria“, sondern mitten im Winter von draußen einen Hilferuf. Eine Nachbarin auf dem Balkon gegenüber winkte um Hilfe. Sie war von ihrer Enkelin unabsichtlich auf dem Balkon ausgesperrt worden. Damals gab es in der Anlage noch einen wunderbaren Hausmeister. Zu zweit, mit vereinten Kräften, gelang es uns, die Großmutter an der inzwischen vor Frust mitten auf dem Wohnzimmerteppich eingeschlafenen Enkelin vorbei aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Es gab aber kein zweites Winken. Kaum hatten wir uns kennengelernt, ist sie ausgezogen. Hier und da ergaben sich schöne Gespräche und auch mal gegenseitige Einladungen, aber das Gefühl, in der Anlage zu Hause zu sein, wollte sich nicht einstellen. Da fehlte etwas.

 

Nachbarschaftsparlamente

 

Im Jahr 2019 nahm ich mit meiner Freundin Pia Haertinger in Salzburg am Kongress „Soziokratie und Politik“ teil. Dort lernten wir Pater Edwin M. John, Joseph Rathinam und Gnanasekar Dhanapal kennen - Pioniere der Kinder- und Nachbarschaftsparlamente in Indien. Wir luden sie im Rahmen unserer Aktivitäten im Soziokratie Zentrum Augsburg, einem Forum der Augsburger Lokalen Agenda 21, nach Augsburg ein und ließen uns von der Idee der Nachbarschaftsparlamente infizieren. Menschen aus der unmittelbarer Nachbarschaft treffen sich regelmäßig, identifizieren Probleme und Visionen, wählen verschiedene Rollen, arbeiten mit viel Erfolg als Kreis an ihren Themen und feiern gemeinsam, was es zu feiern gibt.

 

Diese Kreise werden von Leitungen und Delegierten in übergeordneten Kreisen repräsentiert und haben dadurch die Legitimation, mit unterschiedlichen Stellen – auf entsprechenden Ebenen bis hin zu Regierungen - zu kooperieren und zu verhandeln. Diese Kreise machen aus einem Nebeneinanderwohnen eine lebendige inklusive Nachbarschaft, die ihr Umfeld gestaltet und sich für ihre Ziele und Visionen engagiert.

 

Die alltäglichen oder auch außergewöhnlichen Geschichten unserer indischen Gäste berührten uns und weitere Menschen in Augsburg und zeigten uns das enorme Potenzial dieser bunt zusammengewürfelten Kreise, deren primäres verbindendes Element zunächst nur eine ähnliche Adresse war.

 

Soziokratisch selbstorganisierte Nachbarschaften in Augsburg

 

Wir beteiligten uns mit Unterstützung des Büros für Nachhaltigkeit für Augsburg an einem EU-Projekt, das herausfinden sollte, ob und wie die Idee aus Indien in Europa – mit europäischen Werten und Kulturen – zu übertragen wäre (sonec.org). Wir suchten mit Unterstützung des städtischen Büros für kooperative Stadtteilentwicklung ein Pilotprojekt und fanden es in einer Nachbarschaft in der Jakobervorstadt um den Spielplatz „Am Bogen“ herum.

 

Die Menschen in Augsburg schienen noch zurückhaltender und skeptischer als in Indien zu sein, aber „es hat sich mehr als gelohnt; ich und meine Umgebung haben sich sehr positiv verändert“ sagt Carmen Inés Sánchez Piva, Anwohnerin und treibende Kraft in der Nachbarschaft „Am Bogen“. Ich begann mein Bild, dass in meiner eigenen Nachbarschaft die Menschen eher für sich sein wollen, zu hinterfragen.

 

Erfolgreicher Test im Rahmen des House of New Realitites

 

Eine gute Gelegenheit, meine Nachbar:innen zu fragen, was für sie Nachbarschaft bedeutet, bot das Projekt „House of New Realities“ in der Bäckergasse. Dort gab es im August diesen Jahres das temporäre Café Eder, das ich als Treffpunkt für ein erstes wetterunabhängiges Treffen des Mälzerhofs vorschlagen konnte.

 

Die Einladungen waren schnell geschrieben und in allen 77 Briefkästen um unsere zwei Höfe verteilt. Nunfolgte Unsicherheit. Wird überhaupt jemand kommen? Wie erleichtert war ich, als am Vorabend zumindest eine Rückmeldung kam und wie groß war die Freude, als weitere Nachbar:innen im Café Eder eintrafen. Wir tauschten uns aus, stellten fest, dass es schön wäre, als Nachbarschaft aktiv zu werden und ließen uns von den Musterkarten „Lebendige Stadt“ zu den nächsten Schritten auf dem Weg zu einer lebendigen Nachbarschaft inspirieren.

 

Das zweite Treffen fand als Mälzer-Sommerfest am 24. August mit 25 Personen statt. Wir erfreuten uns an einem wunderbaren Buffet, zu dem alle beigesteuert hatten, und an lebendigen Gesprächen. Das Highlight war für mich der Spaziergang durch unsere zwei Höfe, bei dem wir uns gegenseitig zeigten, wo wer wohnt, und bei dem wir uns voneinander erzählten und Ideen für weitere Treffen gesponnen haben.

 

Seitdem hat mein Zuhause eine neue Qualität. Das nächste Treffen ist in Planung.

 

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in Stadt mit A 58, Augsburgs Agendazeitung.

KONTAKT