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“Kuscheln statt Kaufen” am Black Friday

Eine Gruppe von Menschen brachte zwischenmenschliche Wärme in den Rabattrausch des Black Friday. Der Initiator Stefan Kaindl berichtet in diesem Beitrag, wie es zu dieser Aktion kam und wie es ihm und der Aktionsgruppe dabei ging.
Pappschilder mit Sprüchen zur Aktion "Kuscheln statt Kaufen"

Glückshormone vom Kuscheln 

Text von Stefan Kaindl

 

Vor ein paar Wochen erlebte ich in einem Seminar, was “platonisches Kuscheln” ist, wie es funktioniert und vor allem was die neurophysiologischen Auswirkungen auf meinen Kopf und meinen Körper waren. Ich war begeistert und voller Oxytocin, dem Glückshormon, das Stress reduziert und eine Bindung zu Mitmenschen erzeugt. Mit einem glücklichen tiefen Grinsen im Gesicht schwebte ich nach Hause und musste all meine Erlebnisse sofort mit meiner Frau und in den folgenden Tagen auch mit Freunden teilen.

 

Am Montag Morgen vor dem Black Friday– einige Wochen nach der Kuschelparty und einiges an verbrachter Recherchezeit zum Thema Kuscheln später – traf mich morgens ein nicht wieder los zu werdende Gedanke wie ein Blitz: Kuscheln statt Kaufen!

 

Menschliche Nähe ist einfach schön

Menschen müssen selbst erleben, wie einfach, schön und unproblematisch menschliche Nähe sein kann. Niedergeschriebenes Wissen oder Studien helfen uns nicht weiter. Und dann war da noch die Ankündigung dieses jährlich stattfindenden Konsum-Spektakels. Es musste also passieren - jetzt! Eine Aktion sollte es sein, aber nicht an die Straße kleben, sondern aneinander!

 

Es folgten ein paar schlaflose Nächte und viele “Das-mach-ich-das-erste-Mal-Momente” wie die Versammlung anmelden, der Presse Bescheid sagen und vieles mehr.

 

Elf Kuschelstationen in Augsburg Innenstadt

 

Dann ist es soweit: Freitag 14 Uhr. Wir ziehen los: Elf angemeldete Stationen in der Augsburger Innenstadt warten in den nächsten fünf Stunden auf uns. Zu zweit starten wir mit 20 Schildern und einem Lastenrad als Couch. Da fängt es auch schon an zu regnen. Das hatte ich mir anders vorgestellt…

 

Eine dritte Person kommt dazu und erzählt uns von einer französischen YouTuberin, die das ganz anders macht: Also Schilder weg und mit offenen Armen den Kontakt anbieten. Es kostet mich definitiv Überwindung, mich mitten in die Fußgängerzone zu stellen und mit offenen Armen unbekannte Menschen auf mich zukommen zu sehen.

 

Und da passiert es schon - der erste Mensch möchte eine Umarmung. Aufregung! Es funktioniert - es ist schön. Wir bedanken uns. Wir lächeln. Der Mensch geht lächelnd weiter. Andere Menschen lächeln, weil sie uns lächeln sehen - auch ohne selbst umarmt zu werden. Wie schön!

Platonisches Kuscheln in der Annastraße, Augsburg
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Platonisches Kuscheln in der Annastraße, Augsburg

Positive Glücksspirale

 

Eine positive Spirale des Glücks setzt sich in Gang: Ich lächle mehr und sehe glücklich drein … mehr Menschen fühlen sich angesprochen und mehr Umarmungen finden ihren Weg. Es kommen weitere Menschen dazu und machen mit. Nach einigen Umarmungen bahnt sich auch bei ihnen das Oxytocin seinen Weg und lässt die Mundwinkel dauerhaft gen Himmel ziehen.

"Macht das bitte jeden Tag"

 

Bekuschelte Passantin

So stehe ich also mit offenen Armen da und von Station zu Station freue mich mehr über jede Begegnung, jede Rückmeldung - Worte wie :“Oh wie schön, macht das bitte jeden Tag”, “Danke, dass ihr das macht. Ich bin den Tränen nahe” oder “Danke Bro, schönen Abend”.

 

Langsam merke ich, wie etwas merkwürdiges in mir passiert. Denn wenn ich sonst so durch die Stadt laufe, mache ich üblicherweise einen Bogen um bestimmte Menschen, wie etwa halbstarke Jungs, die am Kö abhängen. Einfach nur weil - wer weiß - vielleicht machen die ja Ärger. Jetzt stehe ich hier mit offenen Armen und kann sie auch nicht wieder zurück ziehen ... und da kommen sie, die Jungs und wollen umarmt werden. Ich bin irritiert und entzückt. Von ihnen und von mir!

 

Umarmungen für alle Menschen

 

Ich umarme Menschen aller erdenklichen Herkunftsländer, zu denen ich den Blickkontakt in der Straßenbahn oft scheue, damit sie nicht das Gefühl bekommen, von mir angestarrt zu werden, Rollstuhlfahrende, Menschen mit entstellt aussehenden Gesichtern, alte Menschen, Kinder, Menschengruppen. Egal! In der herzlich offenen Begegnung macht es plötzlich keinen Unterschied mehr. Selbst Menschen mit einer sich von meiner offensichtlich und deutlich unterscheidenden Weltanschauung kann ich offen begegnen - auch wenn da schon mal Sätze wie: “Also mit dir kuschel ich fei ned” oder “Jesus liebt auch dich” zurück kommen, die mich sonst im Alltag abschrecken.

Wertschätzung und Lebendigkeit als Reaktion

 

Benjamin, der die ganzen fünf Stunden dabei war, konnte sehr viele verschiedene Reaktionen der Menschen wahrnehmen. Er sah Scham, Unsicherheit, Unverständnis, Dankbarkeit, Irritation, Begeisterung, Inspiration, Wertung und Wertschätzung. Ein riesiger Pool an Lebendigkeit, Individualität und vor allem Nächstenliebe und Fürsorge. Sehr spannend war für ihn, dass viele Jugendliche mit einer Selbstverständlichkeit in Kontakt gegangen sind, die herausragend war.

“Für mich als Kuschelnder war es erstaunlich, wie Menschen sich auf unser offenes Angebot zum Kuscheln verhalten. Von langsam, mit schüchternen Blick anschleichen, jubelnd angerannt kommen oder Runden drehen, um mehrfache Umarmungen mitzunehmen, war alles dabei.”

 

Yannis, Mitkuschelnder

Gregor hat berührt, welche emotionalen Veränderungen die kurze Umarmung bei vielen erzeugt hat, und wie viel Dankbarkeit bei einigen zu spüren war. Und schließlich bewegte es ihn auch, wie gut es ihm selbst dabei ging: “Ein „gutes“ Angebot zu haben, das ich gerne offen anbiete (statt etwas Aufrüttelndes, Alarmierendes) und nach der Aktion ein Glücksgefühl durch die Umarmungen. Eine Zufriedenheit, mit meinem Engagement effektiv gewesen zu sein: Bei anderen Menschen etwas Gutes bewirkt zu haben.”

 

Selbst den Tränen nahe war ich am Ende unserer Tour, als ein Junge nach einem unserer Schilder fragte. Mit Schild und einem breiten Grinsen zog er los und hangelte sich begeistert von Umarmung zu Umarmung durch die Annastraße.

Pappschild: Kaufst du noch oder kuschelst du schon?
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Pappschild: Kaufst du noch oder kuschelst du schon?

Info:

Über Stefan Kaindl

Stefan lebt mit seiner Frau Linda und seinen beiden Töchtern in Friedberg bei Augsburg. Nach vielen Jahren in Forschung, Entwicklung und Innovationsberatung ist er nun selbstständig und macht das, was ihn erfüllt und für ihn Sinn macht. Vom Baumhäuser und Spielplätze bauen (www.baum-mit-traum.de), um sich handwerklich auszutoben, bis zu Coaching und Lehre oder Gemeinwohl- und Kreativberatung, um auch sein Hirn beweglich zu halten (www.raum-mit-traum.de). Gerne beherbergt die Familie Gäste aus aller Welt über WWOOF.de, die gegen Kost und Logis mit im Garten und bei einer Vielzahl an Projekten unterstützen.

 

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