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Unser gutes Leben auf Kosten anderer

Die Angst vor dem Ende unseres guten Lebens auf Kosten anderer. Stephan Lessenich: „Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“
Stephan Lessenich. Foto: Goetz Schleser

Was sagt der Erfolg der SUVs, dieser bulligen Allround-Fahrzeuge, über unsere derzeitige gesellschaftliche Situation aus? Der Soziologe Stephan Lessenich erläutert dies einprägsam in seinem Buch „Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“.

Das „Sport Utility Vehicle“ ist seiner Meinung nach die „verdinglichte Gestalt des Klimawandel-Leugnens.“ Mit den SUVs wappnen wir uns gegen drohende Fluten, schotten uns ab, verteidigen uns. Sei es gegen Fluten aus Starkregen oder gegen Flüchtlingsströme. Das brachiale Fahrzeug, so Lessenich, erweckt den Eindruck, die Fahrenden seien schon zum Grenzeinsatz unterwegs.

Das Bild des SUV hat viel mit Lessenichs zentraler Erkenntnis zu tun: „...unser individueller und kollektiver Wohlstand (beruht) eben nicht nur auf harter Arbeit, klugen Herrschaften und dem Glück des Tüchtigen, sondern mindestens ebenso sehr auf struktureller Macht, systematischer Ausbeutung und tätiger Mithilfe an anderer Länder und Leute Unglück.“ (Seite 192)…Und dieser Wohlstand muss anscheinend derzeit verteidigt werden.  

Stephan Lessenich lehrt an der TU München und ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Warum ruft einer der führenden deutschen Soziologen die bekannte Nord-Süd-Spaltung der Welt in Erinnerung?

 

Die Sintflut ist schon da – nur woanders

Das Buch macht klar, was wir alle wissen, aber immer schön verdrängen: die Sintflut kommt nicht nach uns, sondern sie ist schon da. Nur woanders, deswegen spüren wir sie nicht am eigenen Leib. Und mag der und die Einzelne es persönlich auch versuchen, dagegen anzukämpfen: das reicht nicht. Wir, als ganze Gesellschaft, ignorieren die bedrückenden Situationen an vielen armen Orten der Erde. Damit kann es uns nicht ewig gut gehen. Und zahlen wir nicht auch jetzt schon einen Preis? Die gewaltsamen Auseinandersetzungen nehmen auch bei uns zu, die Mobilsten unter den Armen und Verzweifelten setzen sich in Bewegung. Wir sollten handeln - wenn schon nicht aus moralischen Gründen, dann wenigstens aus aufgeklärtem Eigeninteresse.

 

Die weltweiten Probleme sind hinlänglich bekannt

Wir kennen alle mehr oder weniger die Problemfelder, haben davon gehört. Immer wieder. Hier ein Häppchen, dort eins:

  • die Dürrekatastrophen in Ostafrika
  • der Eisenerzabbau in Brasilien, dessen Rückstände ganze Flüsse ökologisch töten, wenn Dämme brechen
  • der alles andere verdrängende Sojaanbau in Südamerika für Futtermittelexporte und Biotreibstoffe
  • der regenwald- und seineBewohnerfressende Palmölanbau in Indonesien und Malaysia
  • der Baumwollanbau in Indien
  • der Sandabbau zur Vergrößerung Singapurs
  • die „transnationalen Sorgeketten“, wenn osteuropäische oder asiatische Frauen Pflege- oder Erziehungsarbeit in europäischen, nordamerikanischen oder Golfstaaten leisten, ihre eigenen Familien jedoch darunter leiden
  • die Müllhalden europäischen Computerschrotts in Westafrika
  • die psychologisch belastende „Müllabfuhr im Internet“, die digitale Putzkolonnen in Billiglohnländern für Facebook und Co erledigen.

 

Wie alt ein Mensch wird, hängt von seinem Wohlstand ab

Lessenich erinnert an die unterschiedliche individuelle Lebenserwartung als Indikator für sozialen Wohlstand. Die ist schon innerhalb Deutschlands unterschiedlich, je nachdem ob man wohlhabend oder arm ist. So beträgt die mittlere Lebenserwartung wohlhabender deutscher Männer 81 Jahre, die ärmerer nur 70 Jahre. Auch weltgesellschaftlich zeigt sich der unterschiedliche Wohlstand in der durchschnittliche Lebenserwartung: beträgt sie für europäische Frauen und Männer fast 81 Jahre, sind es im globalen Süden 65 Jahre. In armen Ländern wie Afghanistan, Somalia, Südafrika und Tschad beträgt sie sogar nur 50 Jahre, in Indien 67, in Rußland 70, in Brasilien 73, in China 75.

 

Grenzen sind für reiche Länder durchlässig, für arme Länder unüberwindbar

Lessenich verweist zudem auf die ungleichen Mobilitätschancen – freier Waren- und Personenverkehr aus dem globalen Norden nach Süden, dagegen Einschränkungen für Güter und vor allem Personen aus dem globalen Süden in den Norden. Und das Ganze wiederholt sich in den einzelnen Gesellschaften: die abgeschotteten Staatsgrenzen spiegeln sich wider in der innergesellschaftlich Abschottung der Wohlhabenden („gated communities“). Stephan Lessenich hat nicht nur die Welt im Blick, sondern auch die eigene Gesellschaft. Er fordert eine Politik doppelter Umverteilung: sowohl nationalgesellschaftlich von oben nach unten, als auch weltgesellschaftlich von „innen nach außen“, aus unseren Wohlstandszentren an die „Ränder“.

 

Migration verspricht schnelle Aufstiegschancen

Dabei ist der Ort, auf welcher Seite der Welt ein Mensch geboren wird, reine Lotterie. Andere Ungleichheiten wie die zwischen Geschlechtern oder Klassen werden angegangen, die Ungleichheiten durch unterschiedliche  Staatsbürgerschaften jedoch nicht. Klar, dass Migration attraktiv ist. Keine interne Aufstiegsstrategie z.B. durch Bildung oder über Wirtschaftswachstum könne eine solch schnelle Verbesserung bringen wie Migration, so Lessenich.

Wieso erhalten wir diesen ungerechten Zustand? Lessenich sieht bei uns eine Mischung aus Bequemlichkeit und Unwohlsein, aus Sorglosigkeit und Überforderung, Gleichgültigkeit und Angst. Das führe zu einem Nicht-Wissen-Wollen und gesamtgesellschaftlichem „Weiter so“. Zentraler Treibstoff sei wohl die „kollektive Angst vor dem Ende des guten Lebens auf Kosten anderer“ (S. 169).

 

Herrschaft durch „strukturelle Gewalt“: Kosten auslagern, Profite einfahren

Mit seiner Zustandsbeschreibung will Lessenich keine Ängste befeuern. Ganz Soziologe, setzt er auf Verstand und Vernunft: er will den Sinn für gesellschaftliche Realitäten befördern. Erkenntnis nehme die Angst vor der Zukunft. Sein Ziel ist Strukturkritik, keine Moralkritik: er will die öffentliche Auseinandersetzung über Bedingungen und Konsequenzen der herrschenden Externalisierung, also der Abschottung und Auslagerung, politisieren. Er will auf Macht und Herrschaft verweisen und strukturelle Hintergründe benennen. Sein Ziel ist es, die eingespielte Machtpraxis – Kosten auslagern, Profite einfahren – wieder sichtbar zu machen und zu hinterfragen – das, was der norwegische Soziologe und Mathematiker Johan Galtung „strukturelle Gewalt“ nannte – dass Gewalt eben nicht nur von einzelnen Akteuren ausgehen kann, sondern auch von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, Normen und Institutionen.

 

Politik gleicher Lebenschancen auf der ganzen Welt

Die wohlstandskapitalistische Lebensweise, dieser „imperiale Provinzialismus“, ist nicht verallgemeinerbar, beruht auf unerträglichen Lebensbedingungen anderenorts und kann nur so aufrechterhalten werden! Lessenichs Grundgedanke: es braucht eine Politik gleicher Lebenschancen im Weltmaßstab. Das aber wird unser gesellschaftliches Leben massiv verändern.

Als politische Aufgaben sieht er die Veränderung des Welthandelsregimes, eine effektive Besteuerung von Finanztransaktionen, den Umbau unseres Wirtschaftssystems zu Postwachstumsökonomien – also den Verzicht auf stetiges Wirtschaftswachstum - , einen globalen Sozialvertrag zur Verzögerung des Klimawandels bzw. der Bewältigung seiner sozialen Folgen und die Verankerung globaler sozialer Rechte. Das zu erreichen, gelingt Lessenichs Ansicht nach nicht allein durch Nischenprojekte, Avantgardehandeln kleiner Gruppen oder technologische Innovationen – sondern durch eine „Instandbesetzung der politischen Institutionen“.

 

Es gibt keine einfachen politischen Botschaften

Wer könnte das leisten? Die Situation ist nicht einfach. Es gibt vertrackte Interessenskollisionen sowohl im Norden wie im Süden. Wie können die Ärmeren in den reichen Gesellschaften, die dennoch bisher auch von der Externalisierung profitieren, angesprochen werden, ohne weiter sozial benachteiligt zu werden? Einfache politische Botschaften sieht er nicht. Aber das Schweigen des Wohlstandskapitalismus will er brechen, weil, wie eingangs schon zitiert:  „...unser individueller und kollektiver Wohlstand eben nicht nur auf harter Arbeit, klugen Herrschaften und dem Glück des Tüchtigen beruht, sondern mindestens ebenso sehr auf struktureller Macht, systematischer Ausbeutung und tätiger Mithilfe an anderer Länder und Leute Unglück.“

 

Lessenich glaubt an die Macht übernationaler Allianzen

An die Macht einzelner glaubt er nicht. Er setzt auf überlokale, übernationale Allianzen von vielen tausend Initiativen, Organisationen, Netzwerken und Bewegungen. Die – in letzter Zeit wieder wachsende – Zahl von lokalen Agenda- und Nachhaltigkeitsprozessen ist hier ein gutes Zeichen.nicht nur wir in Augsburg haben so etwas, auch Münster, München, Bielefeld wollen neu starten. Solche kommunalen Nachhaltigkeitsprozesse tragen das internationale Gen in sich, verstärkt durch die SDGs, die neuen Weltnachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Wir in Augsburg sollten unsere internationale Dimension ausbauen.

Gelesen und gelernt? Vor allem wohl, dass der Einsatz für mehr weltweite Gerechtigkeit notwendiger und sinnvoller ist denn je. Packen wir es an. SUVs brauchen wir dazu nicht.

Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, München 2016, 224 Seiten, 24 Euro.

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