Heimat auf den Teller!
Ein engagiertes Plädoyer für regionales Obst und Gemüse, für das Warten auf den saisonalen Genuss und für eine Renaissance des heimischen Anbaus. Kommentar von Laurin Oberneder.
Sie ist angekommen im Olymp des Essbaren, hat es sich gemütlich gemacht in den Holzkisten der Supermärkte und liegt dort, von warmem Licht bestrahlt, um sich von ihrer langen Reise zu erholen: Die Avocado genießt ihren Ruf als Heilsbringer für Mensch und Natur. Geliebt von Veganer*innen, gepriesen für ihre Vitamine und derart grün, als sei sie der Urschrei der Natur nach mehr Ursprünglichkeit. Ein nachhaltiger Farbtupfer auf dem öde gewordenen Esstisch. Klar kommt das gut an. 2010 wurden knapp 30.000 Tonnen kleiner grüner Helden importiert, 2015 waren es dann bereits 45.000 Tonnen. Das Gewicht von 2.500 Stadtbussen, Tendenz steigend. Hüpft da zurecht das Ökoherz?
Sonnanbeter mit Schattenseiten
Nicht ganz. Die Sorte Hass runzelt mangels Stirn lieber die Schale über ihre Weltretterrolle. Mit Hass die Welt zu retten klingt nicht nur widersprüchlich sondern ist es auch. Avocados brauchen viel Sonne und Wasser. Gerade in trockenen Gebieten muss für ein Kilogramm schon mal mit 1.000 Litern nachgeholfen werden und in meinem Kopf entstehen Bilder von Trockenheit, die Risse in den Boden treibt. Selbst „Bio“ schafft wenig Abhilfe. Vor der Holzkiste lag die Avocado schließlich erst einmal auf LKW-Ladeflächen oder in Flugzeugbäuchen. Im besten Fall aus Spanien, häufig aber aus Afrika oder Südamerika, hat sie einen weiten Weg hinter sich, ehe in Augsburg Guacamole aus ihr wird.
Die Nachhaltigkeit bleibt zwischen verdorrten Landstrichen und Abgasdämpfen auf der Strecke. Egal ob Ananas, Mango oder eben Avocado: Hauptsache Bio, Herkunft egal! Das ökologische Siegel scheint jede Entfernung zu rechtfertigen. Und so kugelt die Avocado auch weiterhin in Massen durch die Regale und verkündet scheinbare Nachhaltigkeit. Dabei liegt die Alternative doch direkt vor unserer Haustüre: Regionale Lebensmittel. Ein Plädoyer für die Renaissance des heimischen Anbaus.
Was bedeutet Regionalität?
Eine klare Frage eigentlich und doch bringt sie mich in Erklärungsnot. Während meiner Recherche fällt mir auf: Was regional ist und was nicht, darüber gibt es geteilte Meinungen. Aus Augsburger Sicht könnte regional das direkte Umland meinen. Oder gleich ganz Schwaben, Bayern oder sogar Süddeutschland. Eine feste Grenze gibt es nicht. Sie sind gefragt! Sind für Sie Kürbiskerne aus Österreich regional, wenn die Alternative China lautet? Wie ist es mit Gurken aus Baden-Württemberg, statt aus Oberhausen? Sie können für sich jedes Mal eine bewusste Grenze ziehen und damit Regionalität für sich selbst definieren. Ramona Dorner von RutaNatur hilft, damit anzufangen:
"Regionaler Konsum, das bedeutet für mich so viel wie möglich aus geringstmöglicher Distanz zu beziehen.“ Ramona Dorner, RutaNatur
Konkreter werden können nur Sie selbst. Und genau hier wird es spannend. Wie kann das mit Freude und Leichtigkeit gelingen? Doch zu allererst: Warum überhaupt regional? Worin liegt der Nutzen für uns und unsere Umwelt?
Regionale Lebensmittel: Vorfreude wiederentdecken
Denken Sie an Erdbeeren im Frühsommer. In nächster Nähe geerntet, frisch vom Feld, knallrot, saftig und zuckersüß. Ein echtes Erlebnis! Allerdings nur, wenn Sie sich bis Mai oder Juni gedulden, um in die erste wirklich reife Beere beißen zu können. Sie nicht immer haben können, sondern auf ihren natürlichen Erntezeitpunkt zu warten, das ist es, was die Erdbeeren so wertvoll macht. Denselben Effekt merken wir im Frühling, wenn kräftige Sonnenstrahlen unsere Winterstarre brechen. Wenn wir uns vorher nicht durch den Winter gezittert hätten, dann würde die Wärme bei weitem nicht so intensiv auf unserer Haut prickeln. Wechselnde Jahreszeiten prägen uns. Genau wie unsere Pflanzen! Da wird der Biss in die bayrische Beere zu Selbsterfahrung. Massenware, die schon viel zu früh in der Auslage liegt, kann das niemals bieten.
"Es gibt Dinge, die sind so gut bei uns, da kann sich nichts anderes mit messen. Ich muss es nur erwarten können bis hier dafür die Zeit ist.“ Helmut Hengelmann, Kappeneck
Bio braucht Regionalität - aber Regionalität braucht auch Bio
Das Beispiel der Avocado zeigt: Bio braucht Regionalität. Aber Regionalität braucht auch Bio. Nur dann kann sie ihr volles Potenzial entfalten. Nur so stärken wir ökologischen Anbau vor Ort. Gleichzeit können wir wiederverwerten, in Kreisläufen denken und der Natur einen Teil zurückgeben. Mit Mist und Kompost können Spargel und Spinat auf dem Feld nebenan gedüngt werden. Ohne lange Transportweg können wir Landschaft und Ressourcen schonen und gleichzeitig CO² sparen.
Mehr Unikate, weniger Müll
Regionale Lebensmittel sind eine tolle Möglichkeit, Müll zu vermeiden. Auf kurzer Strecke können Karotten lose im Kofferraum oder Anhänger transportiert werden und wandern unverpackt vom Feld in den Magen. Ein tolles Gefühl, nicht? Und genauso simpel wie notwendig. Allein 40 Prozent der Lebensmittel in Europa erreichen niemals die Ladenregale. Vielmehr wird weniger schönes, aber einwandfreies Obst und Gemüse schon vorher entsorgt. Fast 40 Millionen Tonnen Lebensmittel kommen dadurch EU-weit zusammen. Gut 1,5 Millionen LKWs fahren jährlich Essen vom Feld auf den Müll. Häufig alleine deswegen, weil es eine Beule hat. Zeit, das zu ändern. Am besten, indem Sie direkt beim Erzeuger oder Regionales in Bioläden kaufen. Krumme Rüben retten, heißt Abfall vermeiden.
Regionalität schafft Vertrauen
In meiner Kindheit bekamen wir oft Eier aus dem Nachbargarten. Die Hühner waren weitläufig eingezäunt und rannten auf meinem Heimweg immer vergnügt neben mir her, solange es ging. Die Eier von dort schmeckten nach Vertrauen. Weil ich sehen konnte, wie die Hühner gehalten und gefüttert wurden. Weil ich ihren Halter Alfred kannte und mit ihm sprechen konnte. Dieses Vertrauen bietet Regionalität auch heute noch.
Wenn zusätzlich ökologische Standards erfüllt werden, können diese in direkter Umgebung besser nachvollzogen und kontrolliert werden, als in Südostasien. Dort müssen wir uns, wollen wir nachhaltig kaufen, auf die vielen verschiedenen Bio-Siegel verlassen. Ein kurzer Plausch mit dem Hühnerhalter schafft oft deutlich mehr Vertrauen, als stundenlange Siegelkunde im Internet. Eine Qualität, die trotz Holzkisten-Avocados und Tracking-Codes im Supermarkt schwer zu finden ist.
Faire Preise, gute Qualität und Geschichten aus der Heimat
Wo wir schon bei Vertrautheit sind. Kleine Familienbetriebe produzieren oft schon jahrzehntelang im selben Bereich. Diese Erfahrung sorgt für Qualität. Doch nicht nur das. Sie stellt auch eine Möglichkeit dar, die eigene Heimat näher kennenzulernen. Schon bringen Sie nicht nur Tomaten und Feldsalat, sondern gleich noch ein neues Rezept oder eine interessante Anekdote vom Einkaufen mit nach Hause.
Der Landwirt um die Ecke profitiert davon in gleichem Maß. Unsere bewusste Entscheidung sichert ihm Arbeit und einen fairen Preis. Ihr Geld landet bei Menschen in ihrer Region, die einen nachhaltigen Beitrag für Mensch und Umwelt leisten. Den Weg über den Zwischenhändler, oftmals geprägt von Preisdiktat und Überproduktion, ersparen wir dem Landwirt und uns selbst.
Und wie? Einfach machen!
Ausreichend Argumente für regionale Lebensmittel sind also vorhanden. Aber wie holen Sie sich mehr davon in ihr Leben? Eines vorneweg: Regionaler Konsum bedeutet zwar hier und da eine bewusste Einschränkung, die Ernährung wird jedoch nicht zwangsläufig langweiliger. Im Gegenteil. Wenn Sie erst einmal aus der Monotonie der Supermärkte ausgebrochen sind, werden Sie zahlreiche Alternativen zu vermeintlich unersetzlichen Produkten aus der Ferne entdecken.
Wer bewusst und mit Neugierde einkaufen geht, lernt die heimische Vielfalt schnell zu schätzen. Machen Sie zum Beispiel Kohl zu Ihrem neuen Superfood. Der ist so vielseitig und gesund wie Avocados und leidet zu Unrecht unter seinem schlechten Ruf als schwer verdauliches Alte-Leute-Essen. Mit der richtigen Zubereitung ist Wirsing, Rosen -oder Grünkohl gerade im Winter ein leckerer und nachhaltiger Ersatz zum Weltreisegemüse. Und machen Sie einen Schritt nach dem anderen. Es geht nicht darum, ihr Leben komplett umzukrempeln. Viele Wege führen zum heimischen Anbau!
Finden Sie Kompromisse und lassen Sie Regionalität in Ihr Leben
Regionalität macht nicht immer Sinn. Es gibt Ausnahmen: Äpfel, die im Winter aus Neuseeland importiert werden haben tatsächlich weniger CO² verbraucht, als jene aus Lagerhaltung und heimischem Anbau. Gerade deshalb auch mein Tipp: Finden Sie für sich den geeigneten Mittelweg. Worauf können Sie verzichten? Und worauf nicht? Wenn Sie Bananen lieben, dann seien Sie nicht zu streng mit sich selbst.
Regionalität ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Baustein von nachhaltigem Konsum. Dann eben ökologische angebaute Bananen und faire Löhne in anderen Regionen. Damit das Potential jeder Landschaft optimal genutzt werden kann. Und zwar für Mensch UND Natur. Überregionale Regionalität also. Damit wir nicht nur vor Ort sondern auch in anderen Regionen Positives bewirken.
"Das was andere Länder können, sollen sie ruhig weiter machen, wenn wir nur das abdecken, was wir schon gekonnt haben und immer noch können, dann ist schon sehr viel gewonnen.“ Herrmann Wiedemann, SoLaWi Augsburg
Fangen Sie an, es lohnt sich
Heimische Lebensmittel, vor allem jene aus biologischem Anbau, sind eine Investition in die Zukunft der eigenen Region. Wir unterstützen Menschen in unserer Umgebung, schaffen nachhaltiges Vertrauen in unübersichtlichen Zeiten und profitieren als Gemeinschaft. Wir stärken ländliche Gebiete und Menschen, die sich Bio noch nicht leisten können. Regionalität hat das Potential die Vielfalt unserer Landschaft wieder ans Licht zu bringen und bietet uns schon heute Abwechslung und Genuss. Hand in Hand mit anderen nachhaltigen Wahlmöglichkeiten kann jeder hier etwas beitragen. Einen Versuch ist es wert, oder nicht? Denn was die Avocado kann, das kann unser heimisches Gemüse schon lange!
"Wenn jeder in seinem Radius schaut, dass alles in Ordnung ist, dann gibt’s bald schon einen nachhaltigen Flächenbrand. Quasi ein Schneeballsystem im positiven Sinne.“ Helmut Hengelmann, Kappeneck
Lust auf saisonalen Genuss?
Hier eine kleine Auswahl von Lifeguide-Orten, wo Sie entweder selbst Ihr Gemüse anbauen können, oder regionales Obst und Gemüse kaufen können. Ansonsten einfach noch ein bisschen im Lifeguide stöbern. Denn natürlich sind auch der Stadtmarkt und alle Stadtteilmärkte zu empfehlen.
Wie können Wissenschaft und Gesellschaft voneinander profitieren?
Dieser Artikel entstand im Rahmen des ersten Lifeguide-Seminares an der Universität Augsburg, das unsere Redakteurinnen Cynthia Matuszewski und Sylvia Schaab im Wintersemester 2017/ 2018 im Fachbereich Geographie anboten.
Die Kernfrage lautete: Wie können Wissenschaft und Gesellschaft voneinander profitieren? Indem sie so oft wie möglich miteinander sprechen und sich austauschen. Indem also beispielsweise junge Wissenschaftler*innen in allgemein verständlicher Sprache von ihren Forschungsprojekten, ihren Forschungsfragen oder ihren Zukunftsmodellen berichten. Im Laufe des Seminars wurde über Verständlichkeit gesprochen, über Recherche, Gegenrecherche, Überschriften, Teaser, Fotos und vieles mehr. „Das war eine inspirierende Zeit für uns von der Lifeguide-Redaktion mit sehr engagierten Studentinnen und Studenten des Fachbereichs Geographie. Es hat Spaß gemacht, mit ihnen in einer Uni-Redaktion zusammenzuarbeiten!“, berichten Cynthia Matuszewski und Sylvia Schaab. Am Ende dieser vielversprechenden Zusammenarbeit lagen dem Lifeguide im Februar 2018 insgesamt 11 neue Artikel vor. Sie werden im Laufe des Jahres 2018 veröffentlicht. Wir freuen uns darauf.