DIY
sich engagieren

„Es ist toll hier!“

Lebensraum Schwabencenter
Sabine Pfister, Wohnzimmer im Schwabencenter, Augsburg,Foto Cynthia Matuszewski

Die eigenen Radieschen auf dem Dach, die City um die Ecke und Freunde oder Arbeitskolleg*innen auf dem gleichen Flur. Ein Hochhaus mit Dorfcharakter? Wie soll das gehen? Einfach einmal anfangen, dachte sich die „Initiative Lebensraum Schwabencenter“.

„Hallo, Herr Meier…“, Marie* winkt einem älteren Herrn zu. „Er dreht jetzt seine Runde, das macht er jeden Tag um diese Zeit“, erklärt die junge Frau und erzählt, dass Herr Meier früher auf einer Baustelle gearbeitet hat und jetzt viel für seine Enkelkinder kocht und bäckt. „Hier ist es ein bisschen wie in einem Dorf“, ergänzt Marie lachend. Wir sind aber nicht in einem Dorf. Wir sind im Augsburger Schwabencenter, in der Einkaufspassage im Untergeschoss. Die drei Hochhäuser aus dem Jahr 1971 mit jeweils 20 Stockwerken sind stadtbekannt. Hier leben 1.600 Menschen. Die Passage im Herrenbachviertel ist jetzt am Vormittag recht leer. Viel Neonlicht, ein Edeka, ein Nagelcenter, ein Dönerladen, ein Schuhdiscounter, ein Immobilienmakler und ein paar Massagestühle. Einige Läden sind nicht vermietet, die Schaufenster mit bunten Plakaten beklebt. Das wirkt nicht sehr anheimelnd und hat so gar nichts vom Charme eines Dorfplatzes.

 

Viel Neonlicht, ein Nagelcenter, ein Dönerladen, ein Schuhdiscounter... und ein Wohnzimmer

Aber dann stehen wir auf einmal vor einem Wohnzimmer. Zwei gemütliche, geblümte Sessel, ein Bücherregal, frische Blumen auf dem Tisch. Und Marie begrüßt einen herzlich. Seit 2015 gibt es das „Wohnzimmer im Schwabencenter“ – ein Nachbarschafts- und Begegnungszentrum, das von der Intitiative Lebensraum Schwabencenter und der AWO Quartiersentwicklung Herrenbach, Textilviertel und Spickel ins Leben gerufen wurde. Marie ist eine der vielen Menschen, die sich hier ehrenamtlich engagieren. Im Wohnzimmer wird italienisch und spanisch gelernt und gesprochen, hier gibt es Salsa-Workshops und Schafkopfrunden, hier wird gesungen, gespielt und die „Weltmeisterinnen im Strümpfe stricken“ treffen sich zum Patchworken und Handarbeiten. Von hier starten Wotans „Botanische Spaziergänge“ zum Bahnübergang im Spickel, weil dort die „interessantesten Pflanzen und Büsche sprießen“. Und hier repariert der „Elektroflüsterer“ Haushaltsgeräte und die „bikekitchen“ Fahrräder. Im „Wohnzimmer“ gibt es genug Platz, denn neben der Leseecke hat das ehemalige Ladenlokal viel Raum, der variabel genutzt werden kann: mal als Werkstatt, mal für Besprechungsrunden.

 

Im Wohnzimmer "regieren" die Bewohner*innen

„Es funktioniert - und zwar immer besser“, freut sich Sabine Pfister von der Inititative Lebensraum Schwabencenter. Immer mehr Leute trauen sich in das Wohnzimmer. Junge Mütter wollen demnächst eine Mutter-Kind-Gruppe eröffnen und einmal im Monat trifft sich im „Salon“ die Gruppe der „Programm-Schaffenden“ und „Wohnzimmerfreunde“. „Kürzlich kam ein muslimischer Mann und fragte höflich, ob er hier sein Mittagsgebet verrichten dürfe“, erzählt die Architektin. Im Wohnzimmer geht alles, hier „regieren die Bewohnerinnen und Bewohner“, so Sabine Pfister.

Die Architektin interessiert sich schon lange für das Schwabencenter. Wo andere nur drei wuchtige, etwas heruntergekommene Hochhäuser sahen, reizte sie die Nähe zur Innenstadt und dem Botanischen Garten und der unverbaubare, phantastische Blick bis zu den Alpen. Eine Umfrage unter den Bewohner*innen des Schwabencenters gibt ihr Recht: Die meisten Menschen leben sehr gern hier. Darauf wurde 2014 auch der Fachbereich Humangeographie von der Universität Augsburg aufmerksam und entwickelte im Rahmen eines Seminares Visionen für ein nachhaltiges Zusammenleben im Schwabencenter. Sabine Pfister und die Personalreferentin Marion Wöhrl engagierten sich für die Umsetzung einer dieser Visionen und sind jetzt regelmäßig im „Wohnzimmer im Schwabencenter“ aktiv.

 

Offene Wünsche: Ein Dachgarten, ein Hostel und ein Co-Working-Space

Beide können sich vorstellen, später einmal in einem der Hochhäuser zu leben, denn das Schwabencenter ist barrierefrei, Ärzte und Einkaufsmöglichkeiten sind in unmittelbarer Nähe. Dazu müssten aber noch weitere Ideen realisiert werden, wie ein Hostel für Gäste von auswärts, ein Co-Working-Space, also ein gemeinsamer Arbeitsplatz, und ein Dachgarten „für die eigenen Radieschen“. Derzeit ist der Fachbereich Humangeographie der Universität Augsburg erneut aktiv und erarbeitet eine Computersimulation, die zeigt, wie sich das Lokalklima verändern würde, wenn das Dach begrünt würde. „Und ein Student prüft in seiner Masterarbeit, wie die Idee der grünen Dächer bei den Bewohnern des Schwabencenters ankommt“, berichtet Sabine Pfister. Auch die Frage der eigenen Energieversorgung steht noch auf ihrer Agenda. „Von der Energiebilanz her ist ein Hochhaus auf jeden Fall schon einmal günstiger, als ein Einfamilienhaus“, sagt Sabine Pfister.

2014 gründete sie zusammen mit Marion Wöhrl die „Initiative Lebensraum Schwabencenter“ und wurden ein Forum der Lokalen Agenda 21 und eine Projektgruppe von Transition Town Augsburg e.V.. Ihr erstes Ziel war das „Wohnzimmer im Schwabencenter“.

Glücklicherweise wollte die AWO zeitgleich ein soziales Begegnungszentrum schaffen und brauchte Räume für ihre Senioren-Fachberatung im Schwabencenter. „Jung und Alt brauchen in einem so anonymen Hochhausumfeld einen Ort, an dem lebendige Nachbarschaft möglich wird“, so die Meinung von Lisa Schuster von der SIC-Quartiersentwicklung der AWO. „Es war ein Glücksfall, dass wir uns getroffen haben“, sagt sie und betont, dass die Zusammenarbeit zwischen einem so großen Wohlfahrtsverband wie der AWO und einem kleinen, ideenreichen und aktiven Initiativ-Projekt hervorragend funktioniert. „Das schafft zusätzlich Reichtum an Ideen“, sagt sie. Auch das Management des Schwabencenters unterstützt die Idee vom Nachbarschaftszentrum und stellt den Ladenraum kostenlos zur Verfügung. „Die Stromkosten bezahlen wir selbst“, so Schuster. Wer das Wohnzimmer nutzt und das Geld entbehren kann, zahlt 50 Cent pro Besuch.

 

Kaffee auf dem Balkon und ein Blick bis zu den Alpen

Inzwischen gestaltet hier ein fester Stamm von 15 Menschen das Programm. „Es ist schon lange nicht mehr so, dass wir nach Ideen suchen müssen, die wir im Wohnzimmer realisieren können, sondern die Menschen kommen auf uns zu“, erzählt Sabine Pfister. Wer erst einmal als Gast im Wohnzimmer war, traut sich nach einigen Besuchen auch, das eigene Können oder Wissen einzubringen. So stellte sich heraus, dass der Besitzer des Dönerladens gern Gitarre spielt. Oder eine der Strümpfe-Strickerin Bücher binden kann. Oder dass alle gemeinsam eine Fackelwanderung zum Kuhsee machen möchten. Das hört sich doch schon eher nach einem Dorf an. Und über Schönheit lässt sich ja bekanntlich streiten. Aber da kommt energischer Widerspruch: Das Schwabencenter, hässlich? „Hässlich ist immer so eine Sache – wenn Du drin bist, wenn Du im Fahrstuhl Leute triffst oder früh am Morgen auf Deinem Balkon Kaffee trinkst – dann ist hier überhaupt nichts mehr hässlich“, sagt Marie. Und Sabine Pfister ergänzt: „Es ist toll hier!“

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